Denken wir uns für einen Moment das Elektron "auf" dem Proton "sitzend" (so wie Sie auf einem Stuhl auf der Erde sitzen). Wenn das Elektron vom Proton entfernt werden soll, muss eine Kraft aufgewendet werden, um gegen die elektrische Anziehungskraft das Elektron vom Proton zu entfernen. Wenn eine Kraft \(F\) auf das Elektron wirkt und das Elektron damit eine Strecke \(s\) radial vom Proton entfernt wird, muss dazu eine Energie \(W = F \cdot s\) aufgebracht werden. Diese Energiemenge wird auch "Arbeit" genannt, die geleistet werden muss, um das Elektron vom Proton zu entfernen.
Im Gravitationsfeld der Erde entspricht diese Arbeit der Hubarbeit, wenn ein Körper gegen die Anziehungskraft der Erde auf eine bestimmte Höhe angehoben wird. Wenn Sie die Leiter beim Dreimeter-Sprungbrett hochgehen, müssen Sie gegen die Anziehungskraft der Erde eine Arbeit leisten. Die geleistete Arbeit wird im System Erde-Mensch als potentielle Energie (Lageenergie) gespeichert. Sobald Sie vom Dreimeter-Brett springen, wird die potentielle Energie in kinetische Energie (Bewegungsenergie) umgewandelt.
Bei den Aufgaben zur Lageenergie sind wir in den letzten Schuljahren davon ausgegangen, dass die Gravitationskraft sich nicht ändert, wenn man einen Körper nur einige wenige Meter anhebt. Damit hat sich die Formel für die Berechnung der Energie, die notwendig ist, um einen Körper einen bestimmten Höhenunterschied anzuheben vereinfacht zu:
\[
\text{Hubarbeit} = m \cdot g \cdot h\]
mit \(m\) = Masse des anzuhebenden Körpers, \(g\) = Ortsfaktor (\(9,81 \frac{N}{kg}\)), \(h\) = radialer Höhenunterschied. Beim Sprung vom Dreimeter-Brett wurde die Lageenergie für die Wasseroberfläche als Null festgelegt. Der Springer auf dem Dreimeter-Brett hat dann gegenüber der Wasseroberfläche die potentielle Energie: \(E_\text{pot} = m \cdot g \cdot h\).
Überträgt man diese Überlegungen auf das Elektron und Proton, dann stellt man fest: wenn man das Elektron vom Proton radial um eine Strecke \(x\) entfernt, muss man eine Arbeit \(W_\text{el}\) leisten und die potentielle Energie \(E_\text{pot}\) des Elektrons relativ zum Proton nimmt zu. Lässt man das Elektron los, fällt es in Richtung des Protons, so dass seine potentielle Energie relativ zum Proton abnimmt und seine kinetische Energie \(E_\text{kin}\) zunimmt.
\[
W_\text{el} = F_\text{el} \cdot x = \frac{1}{4 \cdot \pi \cdot \varepsilon_0} \frac{e \cdot e}{r^2} \cdot x\]
Die elektrische Kraft ist sehr viel stärker als die Gravitationskraft (ca. \(10^{39}\) mal). Bei der weiteren Betrachtung können wir also die Gravitationskraft vernachlässigen. Die Näherung, dass sich die Kraft nur vernachlässigbar ändert, wenn man das Elektron vom Proton entfernt, kann wegen der Stärke der elektrostatischen Kraft nicht angewendet werden. Die Kraft ändert sich deutlich, auch wenn man das Elektron nur eine kleine Wegstrecke radial vom Proton entfernt. Diese Überlegung führt zur Anwendung der Integralrechnung, die Sie in Klasse 12 kennengelernt haben.
Um die Arbeit zu berechnen, die aufgewendet werden muss, um ein Elektron um eine Strecke \(x\) von der Entfernung \(r_1\) zur Entfernung \(r_2\) in einer Bewegung radial vom Proton weg zu bewegen, muss die notwendige Energie für eine beliebig kleine Teilstrecke berechnet werden und dann alle so berechneten Energiebeträge summiert werden. Diese Summenbildung für unendlich viele beliebig kleine Teilstrecken führt zum Integral. Aus dem Ausdruck
\[
W_\text{el} = F_\text{el} \cdot x \]
wird das Integral (anschaulich also die Summe aus unendlich vielen Rechtecken):
\[
W_\text{el} = \int F_\text{el}(x) \,\,\mathrm{d}x\]
Integriert man von der Entfernung \(r_1\) bis zur Entfernung \(r_2\), dann folgt für die zu leistende Arbeit:
\[
\begin{align}
W_\text{el} &= \int \limits_{r_1}^{r_2} F_\text{el}(x) \,\,\mathrm{d}x \\
&= \int \limits_{r_1}^{r_2} \frac{e^2}{4 \cdot \pi \cdot \varepsilon_0} \frac{1}{x^2} \,\,\mathrm{d}x \\
\end{align} \]
Die konstanten Faktoren können vor das Integral gezogen werden, also:
\[
\begin{align}
W_\text{el} &= \int \limits_{r_1}^{r_2} \frac{e^2}{4 \cdot \pi \cdot \varepsilon_0} \frac{1}{x^2} \,\,\mathrm{d}x \\
&= \frac{e^2}{4 \cdot \pi \cdot \varepsilon_0} \cdot \int \limits_{r_1}^{r_2} \frac{1}{x^2} \,\,\mathrm{d}x \\
&= \frac{e^2}{4 \cdot \pi \cdot \varepsilon_0} \cdot \int \limits_{r_1}^{r_2}x^{-2} \,\,\mathrm{d}x \\
&= \frac{e^2}{4 \cdot \pi \cdot \varepsilon_0} \cdot \left[ - x^{-1} \right]_{r_1}^{r_2} \\
&= \frac{e^2}{4 \cdot \pi \cdot \varepsilon_0} \cdot \left[ - r_2^{-1} - (- r_1^{-1}) \right] \\
&= \frac{e^2}{4 \cdot \pi \cdot \varepsilon_0} \cdot \left[ r_1^{-1} - r_2^{-1} \right] \\
&= \frac{e^2}{4 \cdot \pi \cdot \varepsilon_0} \cdot \left[ \frac{1}{r_1} - \frac{1}{r_2} \right] \\
\end{align} \]
Bewegt man ein Elektron der Ladung \(q_2 = e\) von der Entfernung \(r_1\) zur Entfernung \(r_2\) radial vom Proton der Ladung \(q_1 = e\) weg, dann muss man dafür folgende Arbeit leisten bzw. Energie aufwenden:
\[
W_\text{el} = \frac{e^2}{4 \cdot \pi \cdot \varepsilon_0} \cdot \left[ \frac{1}{r_1} - \frac{1}{r_2} \right]\]
Man legt dann weiter allgemein fest: Wenn eine elektrische Ladung \(q_2\) von der Entfernung \(r_1\) zur Entfernung \(r_2\) radial von der Zentralladung \(q_1\) wegbewegt wurde, dann hat die wegbewegte elektrische Ladung \(q_2\) in der Entfernung \(r_2\) relativ zur Entfernung \(r_1\) die potentielle Energie:
\[
E_\text{pot, 2} = E_\text{pot, 1} + W_\text{el}\]
Damit kann man die potentielle Energie relativ zu einer anderen potentiellen Energie angeben, indem man die Energie addiert, die aufgewendet werden muss oder die frei wird, wenn das Elektron von Position 1 zur Position 2 bewegt wird. Im Graviationsfeld wurde z.B. dem Boden im Physiksaal die potentielle Energie Null zugeordnet. In der Atomphysik definiert man das anders. Wie Sie aus dem Chemie-Unterricht wissen, kann ein Elektron aus einem Atom entfernt werden. Das Atom ist dann ionisiert und das entfernte Elektron ist nicht mehr im Einfluss des Protons.
Deswegen legt man fest, dass die potentielle Energie eines Elektrons an einem Ort ausserhalb des Atoms Null ist. Das erscheint unlogisch, denn ein Elektron kann ja beim freien Fall auf das Proton eine um so größere Geschwindigkeit erreichen, je weiter das Elektron vom Proton entfernt ist. Die potentielle Energie müsste also größer werden, je weiter das Elektron vom Proton entfernt ist. Wenn man die potentielle Energie außerhalb des Atoms mit Null festlegt, würde die Energie ja immer kleiner werden, je weiter sich das Elektron vom Proton entfernt.
Mit einem kleinen mathematischen Trick lässt sich das Problem elegant lösen. Wenn man die potentielle Energie \(E_\text{pot, 2}\) im Unendlichen gleich Null setzt, dann folgt:
\[
0 = E_\text{pot, 1} + W_\text{el}\]
Und damit wird einer Ladung \(q_2\) im Abstand \(r_1\) von der Ladung \(q_1\) die negative potentielle Energie \(E_\text{pot, 1} = - W_\text{el}\) zugeordnet. Die Lösung ist also, dass einem Ort in der Atomhülle eine negative potentielle Energie zugeordnet wird. Diese Energie ist umso negativer, je näher man dem Proton kommt. Entfernt man das Elektron vom Proton, dann wird die potentielle Energie weniger negativ. Weniger negativ werden bedeutet mathematisch, dass die potentielle Energie zunimmt, also genau das Verhalten, was dazu passt, dass ein weiter entferntes Elektron auf eine höhere Energie beschleunigt wird, wenn es in Richtung eines Protons fällt.
Die unendliche Entfernung kann jetzt in die Formel der zu leistenden Arbeit eingesetzt werden. Es gilt, dass \(\frac{1}{\infty} = 0\) ist. Das können Sie leicht einsehen, wenn Sie sich vorstellen, dass eine Pizza an unendlich viele Personen verteilt werden soll. Damit man eine Pizza an unendlich viele Personen verteilen kann, muss jedes Stück genau 0 groß sein. Wären die Stücke sehr klein, aber nicht Null, dann wäre die Pizza bei einer bestimmten endlichen Anzahl Pizzaesser irgendwann verteilt. Wenn man also für den Radius \(r_2\) in die Formel der potentiellen Energie den Wert unendlich (\(= \infty\)) einsetzt, dann folgt:
\[
\begin{align}
E_\text{pot} &= - \frac{q_1 \cdot q_2}{4 \cdot \pi \cdot \varepsilon_0} \cdot \left[ \frac{1}{r_1} - \frac{1}{\infty} \right] \\
&= - \frac{q_1 \cdot q_2}{4 \cdot \pi \cdot \varepsilon_0} \cdot \left[ \frac{1}{r_1} - 0 \right] \\
&= - \frac{q_1 \cdot q_2}{4 \cdot \pi \cdot \varepsilon_0} \cdot \frac{1}{r_1} \\
\end{align}\]
Wenn sich eine Ladung \(q_2\) im Abstand \(r_1\) von der Ladung \(q_1\) befindet, dann kann man mit der Formel \(E_\text{pot} = - \frac{q_1 \cdot q_2}{4 \cdot \pi \cdot \varepsilon_0} \cdot \frac{1}{r_1}\) berechnen, wie viel Energie man aufwenden muss, um die Ladung \(q_2\) unendlich weit von der Ladung \(q_1\) zu entfernen. Da die Coulombkraft mit \(\frac{1}{r^2}\) abnimmt, ist dieser Wert bereits nach einer endlichen Strecke in guter Näherung erreicht worden.
Damit kann man auch die Brücke zu den Experimenten spannen. Man kann messen, wie viel Energie man einem Wasserstoff-Atom zuführen muss, damit es ionisiert wird (13,6 eV). Damit kann man festlegen, dass ein Elektron im Wasserstoffatom eine potentielle Energie von -13,6 eV hat. Führt man dem Elektron eine Energie von 2 eV zu, dann wird seine potentielle Energie größer, denn -11,6 > -13,6.
Teilt man die potentielle Energie \(E_\text{pot} = - \frac{q_1 \cdot q_2}{4 \cdot \pi \cdot \varepsilon_0} \cdot \frac{1}{r_1}\) an einem bestimmten Ort relativ zum Nullpotential im Unendlichen durch die Ladung des Elektrons, dann nennt man die dadurch festgelegte Größe das Potential \(\phi\) an diesem Ort.
\[
\phi = \dfrac{E_{pot}}{q}\]
Im inhomogenen elektrischen Feld einer Ladung \(q_1\) gilt für die potentielle Energie relativ zum Nullpotential im Unendlichen:
\[
E_{pot} = - \dfrac{q_1 \cdot q_2}{4 \pi \cdot \varepsilon_0} \cdot \dfrac{1}{r}\]
Für das vom Proton erzeugte Potential \(\phi\) relativ zum Nullpotential im Unendlichen gilt:
\[
\phi = - \dfrac{1}{4 \pi \cdot \varepsilon_0} \cdot \dfrac{q_1}{r}\]
Das Potential ist ein Begriff, den wir auch für das quantentheoretische Atommodell benötigen werden. Dort wird ein Atom mit Hilfe eines Potentialtopfs modelliert. Wie Sie sehen, wird die klassische Bedeutung eines Potentials aus der Kraft zwischen Elektron und Proton abgeleitet.