Ein Wasserstoffatom ist ein gequanteltes System. Das Elektron kann nur bestimmte erlaubte Energien annehmen, so dass ein Photon nur dann absorbiert werden kann, wenn seine Energie \(E = h \cdot f\) genau die Differenz zweier erlaubter Energieniveaus \(\Delta E = E_m - E_n\) ist. Ein Wasserstoffatom, das sich im Grundzustand \(E_1\) befindet, kann nur dann in den angeregten Zustand \(E_2\) übergehen, wenn es ein Photon mit einer Energie von \(10,2 \, \rm{eV}\) absorbiert. Photonen mit einer geringeren Energie als \(10,2 \, \rm{eV}\) können vom Wasserstoffatom nicht absorbiert werden.
Die Frage ist nun, ob diese Quantisierung auch dann gilt, wenn ein Atom mit einem freien Elektron wechselwirkt. Ein freies Elektron kann mit Hilfe einer Beschleunigungsspannung auf eine beliebige Energie beschleunigt werden. Der historische Franck-Hertz-Versuch hatte erstmals gezeigt, dass auch die Wechselwirkung eines Elektrons mit einem Atom quantisiert erfolgt. Übertragen auf das obige Beispiel bedeutet das:
-
ein freies Elektron muss mindestens die kinetische Energie von \(10,2 \, \rm{eV}\) haben, damit es bei einer Wechselwirkung das gebundene Elektron im Wasserstoffatom auf einen angeregten Zustand bringen kann.
-
ein freies Elektron, das eine kinetische Energie von mehr als \(10,2 \, \rm{eV}\) hat, gibt bei einer Wechselwirkung genau \(10,2 \, \rm{eV}\) an das gebundene Elektron ab und behält nach der Wechselwirkung eine Restenergie.
Gedankenexperiment: Man kann sich einen Versuch denken, bei dem in einer Elektronenstrahlröhre, die mit atomarem Wasserstoff bei geringem Druck befüllt ist, Elektronen beschleunigt werden. Man kann dann vier Fälle denken:
-
Die Beschleunigungsspannung ist kleiner als 10,2 V. Die freien Elektronen haben am Ende der Beschleunigungsstrecke eine geringere kinetische Energie als \(10,2 \, \rm{eV}\). Ein gebundenes Elektron im Wasserstoffatom kann keine Energiemenge aufnehmen, die kleiner als \(10,2 \, \rm{eV}\) ist. Die beschleunigten Elektronen dürften daher keine Energie durch Wechselwirkung an ein Wasserstoffatom abgeben.
-
Die Beschleunigungsspannung ist genau 10,2 V. Die freien Elektronen haben am Ende der Beschleunigungsstrecke eine kinetische Energie von genau \(10,2 \, \rm{eV}\). Statistisch zufällig kann ein freies Elektron dann mit einem gebundenen Elektron im Wasserstoffatom wechselwirken und dabei seine kinetische Energie an das gebundene Elektron abgeben, das deswegen in den Energiezustand \(E_2\) übergeht. Das angeregte Elektron behält diese Energie nur eine kurze Zeit, emittiert ein Photon mit einer Energie von \(10,2 \, \rm{eV}\) und geht dadurch wieder in den Grundzustand \(E_1\) über. Das freie Elektron hat keine kinetische Energie mehr.
-
Die Beschleunigungsspannung ist etwas größer als 10,2 V. Die freien Elektronen erreichen vor dem Ende der Beschleunigungsstrecke eine kinetische Energie von \(10,2 \, \rm{eV}\). Sobald ein freies Elektron die kinetische Enerige von \(10,2 \, \rm{eV}\) erreicht hat, kann es statistisch zufällig mit einem gebundenen Elektron im Wasserstoffatom wechselwirken. Das gebundene Elektron kann nur genau \(10,2 \, \rm{eV}\) Energie übernehmen, weswegen das freie Elektron eine Restenergie behält. Das angeregte Hüllenelektron gibt nach kurzer Zeit die aufgenommene Energie wieder ab, indem es ein Photon mit der Energie \(10,2 \, \rm{eV}\) emittiert.
-
Die Beschleunigungsspannung ist wesentlich größer als 10,2 V. Wenn die freien Elektronen auf noch höhere kinetische Energien beschleunigt werden, kann das gebundene Elektron im Wasserstoffatom bei einer Wechselwirkung mit einem freien Elektron auf ein Energieniveau \(E_2\), \(E_3\) oder noch höher angeregt werden. Wenn es hinreichend viel kinetische Energie besitzt, kann das freie Elektron genau die Energiedifferenz \(\Delta E = E_m - E_n\) an das gebundene Elektron abgeben. Hat es vor der Wechselwirkung mehr als die benötigte Energie, behält das freie Elektron nach der Wechselwirkung kinetische Energie.
Anmerkung: In der Literatur wird der Energieaustausch zwischen einem freien Elektron und dem gebundenen Elektron in der Atomhülle manchmal mit Begriffen aus der klassischen Mechanik beschrieben: dem elastischen oder unelastischen Stoß. Wenn man diese Begriffe verwendet, könnte der Eindruck entstehen, dass Elektronen wie kleine Billard-Kugeln zusammenstoßen. Dieses Bild entspricht nicht der aktuell anerkannten Vorstellung.
Nach der aktuellen Quantenfeldtheorie ist das Photon das Austauschboson der Wechselwirkung zwischen geladenen Quantenobjekten. Das bedeutet, dass jegliche elektromagnetische Wechselwirkung durch den Austausch von Photonen erfolgt. Wenn zwei Elektronen wechselwirken, dann stoßen diese nicht wie Billardkugeln zusammen, sondern die beiden Elektronen tauschen Photonen aus. Die ausgetauschten Photonen nennen wir virtuelle Photonen, da diese nicht von außen beobachtet werden können.