6.2 Kernkraft


Der Atomkern besteht aus Protonen und Neutronen. Protonen stoßen sich gegenseitig ab, da sie elektrisch positiv geladen sind. Neutronen sind elektrisch neutral, so dass keine elektromagnetische Wechselwirkung zwischen Neutronen untereinander oder zwischen Neutronen und Protonen beobachtet werden kann. Bei einem Elektroskop-Experiment der Elektrostatik kann veranschaulicht werden, dass die abstoßenden Kräfte groß sind. Nur wenige Ladungen können einen Metallzeiger aufgrund der gegenseitigen Abstoßung auslenken:

Im Thema "Elektrisches Feld" haben Sie gelernt, dass der Betrag der elektromagnetischen Wechselwirkung vom Abstand der geladenen Körper abhängt. Wenn Sie zwei elektrisch geladene Körper einander annähern, wird die abstoßende Kraft um so größer, je näher sich diese Körper kommen. Nach dem Coulomb-Gesetz hängt die Kraft \(F_\text{el}\) vom Abstand \(r\) wie folgt ab:

\[ F_{\text{el}} = \frac{1}{4 \cdot \pi \cdot \epsilon_0} \frac{q_1 \cdot q_2}{r^2}\]

Dabei ist:

  • \(F_{\text{el}}\) = die zwischen den geladenen Körpern wirkende Kraft
  • \(\epsilon_0\) = die elektrische Feldkonstante
  • \(q_1\), \(q_2\) = der Ladungsüberschuss bzw. Ladungsmangel der beiden geladenen Körper
  • \(r\) = der Abstand der beiden Körper (gemessen vom Mittelpunkt zum Mittelpunkt)

Das bedeutet, dass sich der Betrag der elektrischen Abstoßungskraft zwischen zwei Protonen vervierfacht, wenn sich der Abstand zwischen zwei Protonen halbiert. In der folgenden Simulation wird die Kraft zwischen zwei geladenen Körpern abhängig vom Abstand visualisiert.

Durch einen Versuch, wie dem Rutherfordschen Streuversuch kann man die Größe des Atomkerns abschätzen: der Atomkern ist extrem klein, selbst im Vergleich zur Größe eines Atoms. Das bedeutet aber folglich, dass sich im Atomkern die Protonen so nahe kommen, dass die abstoßenden Kräfte der elektromagnetischen Wechselwirkung zwischen ihnen extrem groß werden.

Wenn sich die Protonen gegenseitig im Atomkern so heftig voneinander abstoßen, warum ist ein Atomkern dann stabil?

Protonen und Neutronen sind so klein, dass kein Mensch sie jemals gesehen, gehört, gefühlt oder mit anderen Sinnen wahrgenommen hat. Wir können nur mit Hilfe makroskopischer Meßgeräte, wie dem Elektroskop oder anderen Spannungsmeßgeräte schlußfolgern, dass es so etwas wie ein Proton oder Elektron geben muss, da wir die elektromagnetische Wechselwirkung messen können.

Wenn wir also mit einem Messgerät messen, dass Protonen sich gegenseitig abstoßen, gleichzeitig aber feststellen, dass in einem Atomkern sehr viele Protonen auf engstem Raum stabil zusammengehalten werden, ist die einzige logische Erklärung, dass es noch eine weitere Wechselwirkung zwischen den Atombausteinen geben muss, welche die Protonen und Neutronen zusammenhält.

Diese Wechselwirkung wird von den PhysikerInnen starke Kernkraft oder einfach starke Wechselwirkung genannt, denn sie muss extrem stark sein, um die Protonen auf einem so kleinen Volumen wie dem Kern zusammenzuhalten. Diese Wechselwirkung kann man nicht direkt messen, aber inzwischen glauben die PhysikerInnen, dass es diese Wechselwirkung gibt.

In der Mittelstufe haben Sie vielleicht schon etwas von der Kernfusion gehört. In einem Fusionsreaktor sollen Protonen und Neutronen einander so nahe gebracht werden, dass die starke Kernkraft die Protonen aneinander bindet. Beim Bindungsvorgang wird Energie frei, die man dann z.B. zur Erzeugung von elektrischem Strom nutzen kann.

Man war noch nicht sehr erfolgreich beim Versuch eine solche Fusion künstlich in Gang zu bringen. Der Grund ist, dass man die Protonen einander so extrem nahe bringen muss, bevor diese zu einem Atomkern fusionieren. Und damit Protonen einander so nahe kommen können, muss man extrem hohe Temperaturen erzeugen, damit Protonen so schnell sind, dass sie einander erreichen, bevor sie von der elektrischen Wechselwirkung abgebremst worden sind.

Aus diesem Verhalten lernt man, dass die Reichweite der starken Kernkraft sehr gering sein muss.

Die elektrische Abstoßung zwischen Protonen hat eine große Reichweite. Die starke Kernkraft hat eine sehr kleine Reichweite. Wenn man diese Einsichten kombiniert, folgt daraus, dass Atomkerne nur bis zu einer bestimmten Anzahl von Protonen stabil sein können. Warum?

Erklärung: Je mehr Protonen in einem Kern vorhanden sind, desto größer wird die abstoßende elektrische Kraft zwischen den Protonen. Da die Reichweite der elektrischen Wechselwirkung sehr groß ist, stoßen alle Protonen im Kern sich gegenseitig ab. Die starke Kernkraft hat eine sehr kurze Reichweite und kann nur direkt benachbarte Protonen und Neutronen zusammenhalten. Wenn immer mehr Protonen und Neutronen im Kern vorhanden sind, bleibt die Anziehungskraft zwischen ihnen etwa gleich groß, während die elektrische Abstoßung immer größer wird.

Ab einer bestimmten Atomkerngröße wird die abstoßende Kraft zwischen den Protonen größer als die anziehende Kraft zwischen benachbarten Nukleonen und der Atomkern wird instabil. In einer Nuklidkarte können Sie sehen, dass es ab einer Massenzahl von 209 Nukleonen fast keine stabilen Atomkerne mehr gibt. Die Atomkerne werden radioaktiv und senden radioaktive Strahlung aus.

Sie haben sicher bereits bemerkt, dass die Argumentation im letzten Absatz ziemlich klassisch ist. Protonen und Neutronen sind kleine geladene Kügelchen, die im Kern nebeneinander sitzen. Sie kennen auch sicher hübsche Illustrationen, wo diese Darstellung genutzt wird, um einen Atomkern darzustellen: z.B.: Kernspaltung.

Solche klassischen Darstellungen und Argumentationen sind sinnvoll, solange sie uns helfen, bestimmte Sachverhalte damit nachvollziehen zu können. Oft müssen wir jedoch unsere Erkenntnisse aus der Quantenphysik anwenden und geeignete quantenphysikalische Modelle zur Modellierung von Messwerten verwenden. Auch Protonen und Neutronen sind Quantenobjekte. Schickt man einzelne Protonen auf eine Doppelspaltanordnung, müssen wieder abstrakte Wahrscheinlichkeitswellen zur Modellierung verwendet werden. Sie werden bald quantenphysikalische Modelle zur Modellierung von Atomkernen kennenlernen.

Bleiben wir aber erst einmal im klassischen Bild von Protonen und Neutronen als Kugeln, die nebeneinander im Atomkern sitzen. Der einfachste Kern, der mehr als ein Quantenobjekt enthält, ist der Deuteriumkern, also ein Proton und ein Neutron, die aneinander mit der starken Kernkraft gebunden sind. Wenn man die Masse des Deuteriumkerns mit der Summe der Masse der Bausteine (Proton und Neutron) vergleicht, dann stellt man fest, dass die Masse des Deuteriumkerns größer ist, als die Summe der Masse seiner Bausteine.

Bei der Bindung eines Protons an ein Neutron wird eine Bindungsenergie frei, die an die Umgebung z.B. als Photon abgegeben wird. Die Energie wird aus der Masse des Protons bzw. Neutrons gewonnen. Nach der Formel von Albert Einstein \(E = m \cdot c^2\) kann Masse in Energie umgewandelt werden und umgekehrt. Bei der Spaltung eines Deuteriumkerns in seine Bestandteile muss für die Spaltung eine Energie zugeführt werden, welche nach der Spaltung in die größere Masse von Proton und Neutron umgewandelt wurde.

Bei Kernfusionsvorgängen (Protonen und Neutronen verbinden sich) und Kernspaltungsvorgängen (Protonen und Neutronen trennen sich) wird Energie in Masse und Masse in Energie umgewandelt. Diese Umwandlung kann quantitativ mit der Formel von Albert Einstein: \(E = m \cdot c^2\) beschrieben werden.

Beispielrechung:

Masse des Protons: \(m_\text{p} = 1,007277 \, \text{u}\)
Masse des Neutrons: \(m_\text{n} = 1,008665 \, \text{u}\)
Masse des Deuteriumkerns: \(m_\text{d} = 2,013553 \, \text{u}\)

Summe der Proton- und Neutronmasse: \(m_\text{p + n} = 1,007277 \, \text{u} + 1,008665 \, \text{u} = 2,015942 \, \text{u}\)

Massendefekt: \(\Delta m = m_\text{p + n} - m_\text{d} = 2,015942 \, \text{u} - 2,013553 \, \text{u} = 0,002389 \, \text{u}\)

Rechnet man diese Masse in Energie um, folgt:

\(E = 0,002389 \, \text{u} \cdot 931,5 \, \frac{\text{MeV}}{c^2} \cdot c^2 = 2,225 \, \text{MeV}\)

Zur Erinnerung: 1 u ist die atomare Masseneinheit mit \(1 \, u = 1,660539 \cdot 10^{-27} \, \text{kg} = 931,5 \, \frac{\text{MeV}}{c^2}\)

Immer, wenn Quantenobjekte sich aneinander binden, entsteht ein Massendefekt, denn um die Bindung aufzulösen muss Energie zugeführt werden. Bei einem Wasserstoffatom ist der Massenunterschied zwischen dem Atom und den getrennten Einzelteilen so klein, dass man den Massendefekt nicht unmittelbar messen kann.

Zum Vergleich: die Bindungsenergie die bei der Bindung eines Protons und eines Neutrons frei wird, ist etwa eine Million mal größer als die Bindungsenergie, die bei der Bindung eines Elektrons an ein Proton frei wird.

Schickt man ein hochenergetisches Gammaquant auf einen Deuteriumkern, kann dieser dadurch gespalten werden. Das ist so ähnlich wie bei der Ionisation eines Wasserstoffatoms, bei der das Elektron vom Proton gelöst werden kann, indem das Elektron ein Photon mit hinreichend viel Energie absorbiert und dadurch vom Proton befreit wird. Aus der Energie des eingestrahlten Photons (\(E = h \cdot f\)) kann die Ionisationsenergie abgeschätzt werden.

Bei einem Deuteriumkern geht man wie folgt vor: Man bestrahlt Deuteriumgas mit hochenergetischen Photonen (Gammaquanten). Wenn die Photonen hinreichend viel Energie haben (extrem kurze Wellenlänge, extrem hohe Frequenz), dann kann der Deuteriumkern ein solches Photon absorbieren. Wenn die zugeführte Energie mindestens der Bindungsenergie von Proton und Neutron entspricht, trennen sich das Proton und das Neutron. Ist die zugeführte Energie größer als die Bindungsenergie, besitzen das freie Proton und Neutron nach der Spaltung noch eine Bewegungsenergie. Diese Kernspaltungsreaktion kann wie folgt aufgeschrieben werden:

\[ {}_{1}^{2}\rm{H} + \gamma \to {}_{1}^{1}\rm{p} + {}_{0}^{1}\rm{n}\]

mit \(\gamma\) = Photon (Gammaquant), \({}_{1}^{2}\rm{H}\) = Deuteriumkern (Proton + Neutron), \({}_{1}^{1}\rm{p}\) = Proton, \({}_{0}^{1}\rm{n}\) = Neutron

Die Spaltung des Kern aufgrund der Absorption eines energiereichen Photons wird Kernphotoeffekt genannt.

Dieser Prozess kann umgekehrt ablaufen, indem ein ruhendes Proton und ein ruhendes Neutron sich zu einem Deuteriumkern verbinden. Dabei wird die Bindungsenergie in Form eines hochenergetischen Photons (Gammaquant) frei. Die Kernreaktion kann dann wie folgt dargestellt werden:

\[ {}_{1}^{1}\rm{p} + {}_{0}^{1}\rm{n} \to {}_{1}^{2}\rm{H} + \gamma\]

mit \(\gamma\) = Photon (Gammaquant), \({}_{1}^{2}\rm{H}\) = Deuteriumkern (Proton + Neutron), \({}_{1}^{1}\rm{p}\) = Proton, \({}_{0}^{1}\rm{n}\) = Neutron

Kernphysikalische Forschungen haben gezeigt, dass es nur eine kleine Anzahl von Isotopen gibt, bei welchen der Kern stabil ist. Bei einer weitaus größeren Anzahl von möglichen Isotopen ist der Atomkern instabil und verändert sich im Laufe der Zeit. Bei der Veränderung des Kerns werden Quantenobjekte absorbiert oder emittiert.

Viele der instabilen Isotope zerfallen bereits nach kurzer Zeit, existieren daher nur für einen kurzen Zeitraum, nachdem Sie in einem kernphysikalischen Labor erzeugt wurden. In der folgenden Übersicht sind die stabilen Isotope grün markiert. Die grau unterlegten Isotope wandeln sich nach einer bestimmten Zeit in andere Isotope um. Die Halbwertszeit, also die Zeit in welcher sich die Hälfte der vorhandenen Atome umgewandelt hat, ist in einem Isotopen-Rechteck unten in der Mitte angegeben. Die Einheit der angegebenen Halbwertszeit ist "Sekunden".

Starten Sie die Nuklidkarte durch einen Mausklick auf folgenden Link: Stabile Isotope.