In der folgenden Herleitung soll davon ausgegangen werden, dass es keine Möglichkeit gibt vorherzusagen, wann ein bestimmter ausgewählter instabiler Atomkern radioaktiv zerfällt. Selbst wenn die Halbwertszeit nur 1 Sekunde beträgt, könnte es sein, dass ein bestimmter Atomkern der radioaktiven Substanz, die wir beobachten, 1000 Jahre lang nicht zerfällt. Trotzdem werden in einem Intervall der Halbwertszeit etwa 50 % der Atomkerne zerfallen, wir wissen nur nicht welche!
Wenn man ein Zeitintervall \(t_1\) festlegt, das genau eine Halbwertszeit lang ist, dann können wir für einen bestimmten Atomkern vorhersagen, dass er in diesem Zeitintervall mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 % zerfallen wird. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 % wird er im Zeitintervall \(t_1\) nicht zerfallen.
In einem Zeitintervall \(t_2\), das eine halbe Halbwertszeit lang ist, wird ein Atomkern mit einer Wahrscheinlichkeit von 25 % zerfallen. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 75 % wird der Kern im Zeitintervall \(t_2\) nicht zerfallen.
Man kann also sagen, dass die Zerfallswahrscheinlichkeit von einem Atomkern direkt proportional zur Länge des Zeitintervalls ist. Je kürzer das Zeitintervall ist, desto unwahrscheinlicher ist es, dass der Atomkern zerfällt, je länger das Zeitintervall ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Atomkern zerfällt. Es gilt insbesondere, dass die Wahrscheinlichkeit des Zerfalls in einem Zeitintervall \(\Delta t\) proportional zur Länge des Zeitintervalls \(\Delta t\) ist:
\[
P(\text{zerfällt in} \, \Delta t) \sim \Delta t\]
Bei einer Proportionalität gilt, dass der Quotient zweier zueinander gehörenden Werte konstant ist:
\[
\frac{P(\text{zerfällt in} \, \Delta t)}{\Delta t} = \text{const.}\]
Diese Konstante nennen wir passend "Zerfallskonstante". Für die Zerfallskonstante haben die PhysikerInnen den griechischen Buchstaben Lambda (\(\lambda\)) gewählt, was zur Verwechslung mit der Wellenlänge führen kann. Also denken Sie daran: beim radioaktiven Zerfall steht \(\lambda\) für die Zerfallskonstante, sonst für die Wellenlänge.
Es gilt also:
\[
\frac{P(\text{zerfällt in} \, \Delta t)}{\Delta t} = \lambda\]
und damit
\[
P(\text{zerfällt in} \, \Delta t) = \lambda \cdot \Delta t\]
Wenn \(P(\text{zerfällt in} \, \Delta t)\) die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein instabiler Kern im Zeitintervall \(\Delta t\) zerfällt, dann gilt für die Wahrscheinlichkeit, dass er nicht zerfällt:
\[
P(\text{zerfällt nicht in} \, \Delta t) = 1 - \lambda \cdot \Delta t\]
Wir suchen jetzt einen mathematischen Ausdruck, der uns für jeden beliebigen Zeitpunkt berechnen kann, wie viele Atomkerne noch nicht zerfallen sind. Dazu verändern wir die Zeitintervalle. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kern im Zeitintervall \(2 \cdot \Delta t\) nicht zerfallen ist, beträgt nach der Pfadregel:
\[
P(\text{zerfällt nicht in} \, 2 \cdot \Delta t) = (1 - \lambda \cdot \Delta t) \cdot (1 - \lambda \cdot \Delta t) = (1 - \lambda \cdot \Delta t)^2\]
Für die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kern im Zeitintervall \(n \cdot \Delta t\) nicht zerfallen ist, folgt also:
\[
P(\text{zerfällt nicht in} \, n \cdot \Delta t) = (1 - \lambda \cdot \Delta t)^n\]
Mit Hilfe eines Zeitintervalls \(\Delta t\), das eine bestimmte Größe hat, können wir nicht jeden beliebigen Zeitpunkt erreichen. Es wird also Zeitpunkte geben, die etwas vor oder etwas nach einem Zeitpunkt liegen, die ich durch die Aufsummierung des Intervalls \(\Delta t\) erreichen kann. Wenn man mehr Zeitpunkte erreichen möchte, muss man das Intervall \(\Delta t\) kleiner machen.
Diesen Vorgang kennen Sie bereits aus der Differenzialrechnung, als Sie die Steigung einer Sekante der Steigung einer Tangente angenähert haben. Damit eine Sekante die Steigung einer Tangente genügend genau annähert, wurde das Intervall \(\Delta x\) immer kleiner gemacht. Für kleine Intervall nähert sich die Sekante der Tangente ziemlich gut an, aber erst wenn das Intervall \(\Delta x\) beliebig klein ist (infinitesimal klein), stimmt die Steigung der Sekante beliebig genau mit der Steigung der Tangente überein. Dieser Übergang zu beliebig (im Extremfall unendlich) kleinen Intervallen wurde dadurch symbolisiert, dass das \(\Delta x\) durch ein \(dx\) ersetzt wurde. Das können wir auf die Zeitintervalle übertragen.
Wenn man die Wahrscheinlichkeit für jeden beliebigen Zeitpunkt modellieren möchte, müssen die Zeitintervalle \(\Delta t\) beliebig klein werden. Wir ersetzen \(\Delta t\) mit einem beliebig kleinen Intervall \(dt\):
\[
P(\text{zerfällt nicht in} \, n \cdot dt) = (1 - \lambda \cdot dt)^n\]
Mit einem beliebig kleinen Zeitintervall \(dt\) kann man durch Aufsummierung von hinreichend vielen Zeitintervallen jeden beliebigen Zeitpunkt \(t\) in der Zukunft erreichen. Wenn das Zeitintervall \(dt\) so klein wird, dass es gegen Null geht, muss man aber auch unglaublich viele Intervalle \(dt\) addieren, um einen bestimmten Zeitpunkt \(t\) zu erreichen. Die Anzahl \(n\) der Intervalle \(dt\) wird also beliebig groß werden, wenn \(dt\) beliebig klein wird. Das ist die Idee der Infinitesimalrechnung, die Sie bereits bei der Bestimmung von Ableitungen und der Berechnung von Integralen kennengelernt haben.
Wenn ich mich also dafür interessiere, wie viele Atomkerne zu einem Zeitpunkt \(t\) noch nicht zerfallen sind, muss ich vom Start der Messung aus unendlich viele Zeitintervalle \(dt\) addieren, um den Zeitpunkt \(t\) zu erreichen. Es gilt also \(t = n \cdot dt\) für \(n \to \infty\) und \(dt \to 0\). Aufgelöst nach \(dt\) folgt \(dt = \frac{t}{n}\). Insgesamt folgt für die Wahrscheinlichkeit, dass ein Atomkern zu einem Zeitpunkt \(t\) noch nicht zerfallen ist, wenn das Zeitintervall \(dt\) beliebig klein wird:
\[
\begin{align}
P(\text{zum Zeitpunkt} \, t \, \text{noch nicht zerfallen}) &= \lim\limits_{n \rightarrow \infty}{\left( 1 - \lambda \cdot dt \right)^n} \\
&= \lim\limits_{n \rightarrow \infty}{\left( 1 - \lambda \cdot \frac{t}{n} \right)^n} \\
&= \lim\limits_{n \rightarrow \infty}{\left( 1 - \frac{\lambda \cdot t}{n} \right)^n} \\
\end{align}\]
Aus dem Wunsch der PhysikerInnen, den Bestand der noch nicht zerfallenen Atomkerne zu jedem beliebigen Zeitpunkt berechnen zu können, folgt die Notwendigkeit unendlich viele, beliebig kleine Zeitintervalle zu betrachten. Wenn man diesen Ausdruck auf ein Baumdiagramm übertragen, folgt, dass wir einen Pfad haben, der unendlich lang ist, denn wir haben ja unendlich viele Zeitintervalle, für welche wir einzeln die Wahrscheinlichkeit angeben. Um die Gesamtwahrscheinlichkeit dieses Pfades zu berechnen, müssen unendlich viele Einzelwahrscheinlichkeiten multipliziert werden.
Ein solcher Ansatz wird natürlich nur gewählt, wenn vorher klar ist, dass das Ergebnis dieses unendlich langen Produkts ein bestimmter Ausdruck ist. Und tatsächlich kannten die MathematikerInnen bereits Vorgänge die aus einem unendlichen Produkt einen bestimmten Ausdruck lieferten: z.B. die Zinseszinsrechnung. Auf folgender Seite können Sie die Idee dazu nachvollziehen: die Eulersche Zahl und der Zinseszins.
Im folgenden setzen wir für einen Ausdruck wie:
\[
y = \left( 1 - \frac{1}{n} \right)^n\]
immer größere Werte für n ein und sehen, was passiert.
- \(\left( 1 - \frac{1}{2} \right)^2 = 0,25\)
- \(\left( 1 - \frac{1}{3} \right)^3 = 0,296296...\)
- \(\left( 1 - \frac{1}{10} \right)^{10} = 0,3486784401\)
- \(\left( 1 - \frac{1}{100} \right)^{100} = 0,3660323412...\)
- \(\left( 1 - \frac{1}{1000} \right)^{1000} = 0,3676954247...\)
- \(\left( 1 - \frac{1}{1000000} \right)^{1000000} = 0,36787925722106646...\)
- \(\left( 1 - \frac{1}{1000000000} \right)^{1000000000} = 0,3678794409875026009...\) -
- ...
Sie können beobachten, dass sich der Rechenausdruck für große \(n\) gegen eine Zahl annähert. Diese Zahl ist der Kehrwert der berühmten Eulerschen Zahl \(e\).
\[
\begin{align}
1/e &= 0,367879441171442321595523770161460867445811131031767834507... \\
e &= 2,718281828459045235360287471352662497757247093699959574966...
\end{align} \]
Ersetzt man die Zahl 1 im Zähler mit einer Variablen x, kann man zeigen, dass gilt:
\[
\frac{1}{e^x} = \lim\limits_{n \rightarrow \infty}{\left( 1 - \frac{x}{n} \right)^n}\]
Wir ersetzen \(x\) mit \(\lambda \cdot t\) und es folgt:
\[
\begin{align}
P(\text{zum Zeitpunkt} \, t \, \text{noch nicht zerfallen}) &= \lim\limits_{n \rightarrow \infty}{\left( 1 - \frac{\lambda \cdot t}{n} \right)^n} = \frac{1}{e^{\lambda t}} = e^{-\lambda t}
\end{align}\]
Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Atomkern zum Zeitpunkt \(t\) noch nicht zerfallen ist, beträgt \(e^{-\lambda t}\). Sie kennen die e-Funktion bereits aus dem Unterricht und wissen, dass für positive Werte von \(\lambda \cdot t\) für den Wert von \(e^{-\lambda t}\) gilt:
\[
0 \leq e^{-\lambda t} \leq 1 \]
Da Wahrscheinlichkeiten zwischen 0 und 1 liegen, eignet sich die Funktion \(e^{-\lambda t}\) zur Modellierung einer Wahrscheinlichkeit. Wie wir gezeigt haben, folgt die Gleichung
\[
\begin{align}
P(\text{zum Zeitpunkt} \, t \, \text{noch nicht zerfallen}) &= e^{-\lambda t}
\end{align}\]
aus der Annahme, dass der Zerfall eines instabilen Atomkerns unabhängig von seiner Geschichte rein zufällig passiert. Bei vielen gleichartigen Kernen können wir also nicht sagen, welcher Kern wann zerfallen wird, es ist aber möglich vorherzusagen, dass in einer bestimmten Zeit ein bestimmter Anteil zerfallen sein wird.
Die Anzahl \(N\) der Atomkerne, die zu einem Zeitpunkt \(t\) noch vorhanden sind, ist also das Produkt aus der Anzahl \(N_0\) der Kerne, die zu Beginn vorhanden waren und der Wahrscheinlichkeit \(e^{-\lambda t}\), dass ein Kern zum Zeitpunkt \(t\) noch vorhanden ist (gerechnet von einem bestimmten Startzeitpunkt aus):
\[
N(t) = N_0 \cdot e^{-\lambda t}\]
Die Zerfallskonstante lässt sich experimentell bestimmen, indem man die Anfangsanzahl \(N_0\) zum Zeitpunkt \(t_0\) mit der Anzahl \(N\) der nicht zerfallenen Atomkerne zum Zeitpunkt t vergleicht. Aus
\[
N(t) = N_0 \cdot e^{-\lambda \cdot t}\]
folgt mit Hilfe der Logarithmengesetze für den natürlichen Logarithmus (siehe Formelsammlung):
\[
\begin{align}
\frac{N(t)}{N_0} &= e^{-\lambda \cdot t} \,\,\, | \, ln \\
ln \left( \frac{N(t)}{N_0} \right) &= ln \left( e^{-\lambda \cdot t} \right) \\
ln \left( \frac{N(t)}{N_0} \right) &= -\lambda \cdot t \\
-\lambda &= \frac{ln \left( \frac{N(t)}{N_0} \right)}{t} \\
\lambda &= - \frac{ln \left( \frac{N(t)}{N_0} \right)}{t} \\
\end{align} \]