M.7 Korrespondenzprinzip


Im Physikunterricht der Oberstufe werden Sie Theorien, Gesetze und Modelle kennenlernen, die von Physiker*innen entwickelt wurden, um das Verhalten der Natur sinnvoll zu beschreiben. Sinnvoll bedeutet, dass bei geplanten Experimenten die zu erwartenden Messergebnisse richtig vorhergesagt werden können oder dass das Zustandekommen beobachteter Phänomene nachvollziehbar erklärt werden kann.

Bei der Entwicklung von Naturmodellen gibt es ein grundlegendes Problem: man kann nicht alle denkbaren Experimente durchführen, um ein Modell mit allen möglichen Situationen abzugleichen. Und vielleicht gibt es mögliche Experimente, die noch niemandem als Experiment eingefallen sind. Sollte ein durchgeführtes Experiment nicht mit einem bestehenden Modell erklärt werden können, dann muss das vorhandene Modell korrigiert, erweitert oder mit einem besseren Modell ersetzt werden.

Dabei gilt das Korrespondenzprinzip, das erstmals vom dänischen Physiker Niels Bohr bei der Entwicklung der Quantenphysik aufgestellt wurde. Man unterscheidet zwei Klassen von physikalischen Theorien: Erstens die klassischen Theorien, mit denen bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts die meisten beobachteten Naturphänomene sinnvoll erklärt werden konnten und zweitens die modernen Theorien, die im 20. Jahrhundert entwickelt wurden, um neue Phänomene zu erklären, die mit klassischen Modellen nicht mehr erklärt werden konnten. Die Entwicklung der modernen Theorien wurde notwendig, nachdem man mit fortgeschrittener Technologie die atomare Welt untersuchen und mit fortgeschrittenen Teleskopen unsere Heimatgalaxie, die Milchstraße verlassen konnte.

Zwischen den klassischen und modernen Modellen gilt das Korrespondenzprinzip:

Jedes moderne physikalische Modell muss in ein gut begründetes klassisches Modell übergehen, wenn man das moderne Modell auf Experimente anwendet, die von dem entsprechenden klassischen Modell sinnvoll modelliert werden können.


Beispiel 1:

Im Physikunterricht der 11. Klasse haben Sie das Gravitationsgesetz von Isaac Newton kennengelernt. Das Gesetz besagt, dass die Anziehungskraft die zwischen einem Körper und der Erde wirkt, abhängig vom Abstand zwischen dem Körper und der Erde ist. Je weiter ein Körper von der Erde entfernt ist, desto geringer wird die Anziehungskraft.

Im Unterricht haben Sie zwei Situationen behandelt, die mit dem Gravitationsgesetz modelliert wurden:

Situation 1: Der waagrechte Wurf

Wenn eine Kugel mit einer konstanten Geschwindigkeit in x-Richtung über die Tischkante rollt, dann fällt die Kugel auf einer Parabelbahn in Richtung Erdoberfläche. Dabei wird angenommen:

  • die Fallbeschleunigung ist konstant (\(g = 9,81 \, \frac{\text{m}}{\text{s}^2}\)),
  • die Oberfläche der Erde ist eben,
  • und die Fallbeschleunigung ist immer senkrecht zum Boden gerichtet.

Die Bewegung der Kugel kann mit diesen Annahmen sinnvoll modelliert werden und die Meßdaten aus der Videoanalyse passen zu den Vorausssagen der mathematischen Formeln, die aus den Annahmen hergeleitet wurden.

Situation 2: Satellitenbewegung

Wenn ein Satellit auf einer Bahn die Erde umfliegt, bei der sich der Abstand zur Erde ändert, dann müssen andere Annahmen gemacht werden:

  • die Fallbeschleunigung des Satelliten ist nicht konstant, sondern ändert sich mit dem Abstand zur Erde,
  • die Oberfläche der Erde ist gekrümmt,
  • und die Fallbeschleunigung ist nicht immer senkrecht zur Oberfläche der Erde, sondern stets zum Erdmittelpunkt hin gerichtet.

Aus diesen Annahmen folgt, dass die Bewegung des Satelliten keine parabelförmige Bahn sein wird. Bei konstantem Abstand zur Erde wird sich der Satellit relativ zur Erde auf einer Kreisbahn bewegen (geostationäre Satelliten), wenn sich der Abstand zur Erde ändert, wird die Bahn eine elliptische Bahn relativ zur Erde sein.

Wenn man das zweite Modell mit den Annahmen zur Satellitenbewegung auf den waagrechten Wurf anwendet, dann stellt man fest, dass die Änderung der Fallgeschwindigkeit beim Fall der Kugel vom Physiktisch vernachlässigt werden kann, weil sie bei dieser kurzen Bewegung praktisch nicht gemessen werden kann. Wenn man versucht, die Krümmung der Erde beim Fall der Kugel zu berücksichtigen, stellt man fest, dass auch diese auf die kurze Distanz von 1-2 m vernachlässigt werden kann, außerdem wurde der Physiksaal ja mit einem tatsächlich ebenen Boden gebaut und die Satellitentheorie liefert in sehr guter Näherung eine Parabelbahn für den waagrechten Wurf der Kugel.

Wendet man das Korrespondenzprinzip auf das erste Beispiel an, dann gilt: stimmen die für das Experiment zugrunde gelegten Bedingungen überein, dann modelliert das allgemeinere Modell (Satellitenbewegung) die Situation genausogut wie das eingeschränkte Modell (waagrechter Wurf).

Das allgemeinere Modell muss sich auf das eingeschränkte Modell zurückführen lassen, wenn spezielle Randbedingungen gelten, wodurch das eingeschränkte Modell sinnvoll eingesetzt werden kann.

Bei sehr hohen Geschwindigkeiten (> 10% der Lichtgeschwindigkeit) und bei sehr großen Massen (Umgebung der Sonne oder Umgebung von schwarzen Löchern) kann das Verhalten der Körper nicht mir sinnvoll mit dem Newtonschen Gravitationsgesetz beschrieben werden. Daher wurde die moderne Relativitätstheorie entwickelt, welche die Gravitationskraft mit der Raumzeitkrümmung ersetzt hat. Damit die moderne Relativitätstheorie ein sinnvolles Modell ist, muss sie nach dem Korrespondenzprinzip das Verhalten von Objekten bei kleinen Geschwindigkeiten und kleinen Massen genauso gut beschreiben, wie die Gravitationstheorie von Newton.


Beispiel 2:

In der sechsten Klasse haben Sie die geometrische Optik kennengelernt, bei welcher das Licht durch Lichtstrahlen modelliert wird, die sich geradlinig ausbreiten. Mit diesem Modell konnten Phänomene wie geradlinige Ausbreitung, Reflexion an Spiegeln und Brechung in Linsen und Prismen sinnvoll modelliert werden.

Beim Thema "Schwingungen und Wellen" werden Sie Phänomene wie Interferenz und Beugung kennenlernen, die mit dem Modell der geometrischen Optik nicht mehr erklärt werden können. Hier müssen wir das Modell "Licht ist ein Strahl" ersetzen mit "Licht ist eine Welle".

Beim Thema "Quantenphysik" werden Sie Phänomene wie den Comptoneffekt kennenlernen, der nur dadurch erklärt werden kann, dass Licht aus Lichtquanten besteht, von denen jedes einzelne eine bestimmte Menge an Energie transportiert. Das Modell "Licht ist eine Welle" muss dann ersetzt werden mit dem Modell "Licht verhält sich bei seiner Ausbreitung wie eine Welle und transportiert Energie in Energiepaketen fester Größe". Die Beschreibung dieses seltsamen Verhaltens wird abgekürzt mit "Licht besteht aus Photonen".

Das Korrespondenzprinzip verlangt nun, dass das Photonenmodell des Lichts alle Situationen sinnvoll modellieren kann und dass die Situationen, die von den alten Modellen sinnvoll modelliert werden können, vom neuen Modell genauso modelliert wird.


Die klassischen Modelle sind nicht "schlechter", als die modernen Modelle und werden daher natürlich noch in der Schule und in den Hochschulen gelehrt. Man muss aber stets prüfen, ob die klassischen Modelle in einer speziellen Situation angewendet werden können oder man die allgemeineren modernen Modelle verwenden muss. In einem Grenzbereich geht dann ein modernes Modell in ein klassisches über, so dass beide in guter Näherung parallel angewendet werden können.

Dabei gilt stets das Korrespondenzprinzip: Das moderne Modell muss alle denkbaren Situationen modellieren können und beschreibt bei Situationen, die durch ein klassisches Modell sinnvoll modelliert werden können, die Situation genauso wie das klassische Modell.

Werden Situationen gefunden, die durch das moderne Modell nicht sinvoll modelliert werden können, muss das Modell erweitert oder mit einem besseren Modell ersetzt werden, das aber wiederum alle Situation, die durch die alten Modelle sinnvoll modelliert werden, genauso modelliert.